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Pöhle, Klaus : Nach dem „Nein“ Frankreichs und der Niederlande : Weder Panik noch Schadenfreude

Keine Panik : Kein Krieg wird ausbrechen und die EU nicht in ihre Bestandteile zerfallen. Aber wenn Frankreich und die Niederlande ihre negativen Referenden nicht mehr im Rahmen ihrer Verfassung korrigieren können, kann die EU-Verfassung nicht in Kraft treten. Deshalb befindet sich die EU gegenwärtig in einer schweren politischen Krise. Aber der lebendige Organismus EU - an Krisen gewöhnt — funktioniert weiter, wie dies auch Staaten bei Krisen tun. Die 26 Generaldirektionen der Europäischen Kommission haben ohne Unterbrechung ihre Arbeit fortgesetzt, Wettbewerbsfragen entschieden, Anträge zu den verschiedenen Fonds (Sozial-, Regional- usw.) geprüft, die EU-Handelsinteressen gegenüber China (Hemden) und die USA (Subventionen für Boeing bzw. Airbus) vertreten usw. usf. Dies gilt auch für den Rat, das Europäische Parlament und die anderen Organe und Institutionen. Die Welt wird aufmerksam beobachten, wie die EU diesen Schwächeanfall meistert.

Vermutlich wird die Kommission wieder einmal mit der Vorlage neuer Vorschläge vorübergehend zurückhaltender sein. So wird der längst überfällige Dienstleistungssektor (Bolkestein !) nicht weiter für den Binnenmarkt geöffnet werden, obwohl dies im Ergebnis viele neue Arbeitsplätze bringen könnte. Stattdessen wird energisch geprüft werden, welche Neuerungen aus der Verfassung mit prononciert demokratischem Charakter vorgezogen werden können. Das Recht der Bürger, mit einer Million Unterschriften eine Gesetzesvorlage der Kommission zu erzwingen, dürfte nicht dabei sein. Vielleicht werden Wege gefunden, um die Charta der Grundrechte der Union in Kraft zu setzen und die Rechtstellung von Europäischem Parlament und nationalen Parlamenten zu verbessern. Schon deshalb ist Schadenfreude über die negativen Referenden fehl am Platze. Am Ende werden die Neinsager die wahren Verlierer sein, denn die Promotoren der europäischen Integration haben die besseren Argumente auf ihrer Seite, wie sich Europa in der globalisierten Welt gut behaupten können wird.

Der Euro bleibt, wird wieder erstarken und schon in zwei/drei Jahren werden weitere Mitglieder ihn annehmen. Holland wird den Euro nicht aufgeben, denn die geballte Spekulation würde sich auf den ohne Euro-Verbund schutz-losen Gulden stürzen. Wie der Dollar kann der Euro Kursschwankungen gelassen hinnehmen, denn beide sind so stark, dass den Spekulanten die Lust bald vergehen wird und sie sich wieder ein schwaches Opfer suchen werden.

Ratifikation fortsetzen !
Da keinem Volk der 25 EU-Mitgliedstaaten das Recht verweigert werden darf, sich in Referenden oder durch ihre Parlamente für oder gegen die EU-Verfassung auszusprechen, muss der Ratifikationsprozess so zu Ende geführt werden, wie es im Verfassungsentwurf festgelegt und zwischen den Mitgliedstaaten vereinbart worden ist.

Andernfalls würden sich 23 Nationalstaaten ohne Not der Entscheidung Frankreichs und der Niederlande unterwerfen, was das Selbstwertgefühl ihrer Bürger kränken und das der Franzosen und Holländer im Übermaß ansteigen ließe. Schließlich handelt es sich um zwei der sechs EU-Gründungsmitglieder, auch wenn sich beide nicht immer als Gralshüter europäischen Integrationswillens erwiesen haben. Auch verlangt der Respekt vor der intensiven und schwierigen Arbeit des Verfassungskonvents ein Votum aller 25 Mitgliedstaaten. Erst dann ist erkennbar, ob die Zeit für eine europäische Verfassung zwar insgesamt reif ist, aber am Widerstand weniger Mitgliedstaaten gescheitert ist. Dieses Vorgehen mag dem Tschechen Vaclav Klaus und dem Schotten Tony Blair nicht passen ! Wen stört es ?

Fehleinschätzung der Völker
Als Chirac, Balkenende und Juncker im Verfassungsentwurf das bessere und notwendige Instrumentarium für die Behauptung der EU mit 25 oder mehr Mitgliedern in einer immer komplizierteren Welt erkannten, trauten sie ihren Völkern die gleiche Einschätzung zu und setzten - ohne Not - Referenden an. Nachdem die Mehrheit der Franzosen und Holländer überwiegend andere Motive als die Verfassung für ihr Nein hatten, hätten Chirac und Balkenende die Konsequenzen ziehen und zurücktreten sollen. Wer Juncker wegen seiner bekräftigten Rücktrittsabsicht Erpressung vorwirft, will es sich mit seiner Stimmabgabe leicht machen, scheut aber ihre Folgen und schadet Luxemburg, das seinen glänzenden sozialen und politischen Aufstieg seinem außerordentlich geschickten Mitwirken in der europäischen Integration verdankt. Zuletzt lieferte es mit der Bewahrung des Luxemburger Bankgeheimnisses ein hervorragendes Beispiel dafür, dass die Weiterentwicklung der EU (Einstieg in die Steuerharmonisierung mit der Zinssteuer) sehr gut mit den Luxemburger Interessen verknüpft werden kann.

Motive für das Nein
Menschen scheuen vor zu vielen politischen, wirtschaftlichen und technologischen Änderungen und Krisen in zu kurzer Zeit zurück. Sie brauchen viel Zeit zur Umgewöhnung. Die EU entwickelte sich schneller und breitete sich inhaltlich wie geografisch/sprachlich/kulturell weiter aus, als die Bürger folgen konnten oder wollten. Ihr latent vorhandenes Unbehagen steigerte sich zum Groll nach Einführung des Euro, der sehr großen Osterweiterung und wachsenden sozialen Problemen im Nationalstaat. Aber Politik ändert sich schnell, wird zu Geschichte und Zusammenbruch des Kommunismus mit Wegfall des Eisernen Vorhangs verlangten schnelle Reaktionen der EU.

Viele ihrer Motive für das Nein wie soziale Lage, Renten, Steuern, Arbeitslosigkeit, Immigration usw., hatten mit der EU-Verfassung nichts zu tun, weil dafür noch immer die Mitgliedstaaten zuständig sind. Aber der Verfassungsentwurf nährte ihre Zweifel am Fortbestand von Nationalstaat, nationaler Verfassung und nationaler Identität, wenn die Entwicklung der EU durch eine eigene Verfassung gekrönt wird. Leider wagten unsere Regierungen bisher nicht, ihren Bürgern zu verdeutlichen, dass unsere Nationalstaaten oft überfordert sind und deshalb der EU Schritt für Schritt die Vertretung ihrer Interessen anvertrauen müssen. Die Menschen sollten erkennen, dass die Nationalstaaten bestehen bleiben und ihnen über den Staatenverbund EU sogar eine neue, größere Geborgenheit anbieten. Da dies logischerweise auch die Fähigkeit zur gemeinsamen Verteidigung einschließt, ist es absurd, dies als Militarisierung und Aufrüstung zu verteufeln. Beim jetzigen Erkenntnisstand großer Teile der Völker wäre vielleicht diese Fragestellung ehr-licher gewesen : Wollt Ihr noch die europäische Integration ?

Konsequenzen für die Nein-Staaten
Zwar verlangen Solidarität und Diplomatie unter EU-Regierungen die gemeinsame Suche nach Erklärungen, Beschönigungen, Kompromissen und neuen bürgerfreundlichen Politikansätzen. Wie oft wurde schon mehr Transparenz in der EU versprochen, aber nie eingehalten, weil so der schwarze Peter dem anonymen Brüssel zugeschoben werden konnte, obwohl die Entscheidungen weitgehend von den Regierungen getroffen wurden. Auf diese Weise konnten politische Klasse und nationale Parteien ihre nationalen Machtspiele (etwa in Frankreich) ungestört weiter führen und dies auch auf der europäischen Ebene fortsetzen. Erst mit der Verfassung würde ernsthaft mehr Transparenz in die EU eingeführt (z.B. Ratspräsident für 21/2 Jahre ; Europäischer Außenminister für mindestens 5 Jahre ; Gesetze statt Verordnungen ; Rahmengesetze statt Richtlinien usw.).

Nun muss mit den negativen Abstimmungs-ergebnissen und der quasi-Verweigerung des Referendums in Großbritannien die Spreu vom Weizen getrennt werden. Damit auch die Bürger ihr Recht zur Stimmabgabe ernst nehmen, müssen die Ergebnisse von Referenden Konsequenzen haben, auch für Gründerstaaten wie Frankreich und die Niederlande, seien sie groß oder klein.

Die Ja-Staaten werden als dynamische Kernstaaten die Entwicklung in wechselnden Koalitionen in- wie außerhalb des EU-Rahmens vorantreiben wollen und dafür die im Vertrag von Nizza vorgesehene Möglichkeit zur „Verstärkte Zusammenarbeit“ nutzen. Da die Nein-Staaten ihr begrenztes Interesse an der Fortentwicklung der EU bekundet haben, driften sie an den Rand des Integrationsgeschehens und können - wie Irland und Großbritannien jetzt schon - erleben, dass die Nicht-EU-Mitglieder Island, Norwegen und neuerdings die Schweiz durch Teilnahme am Schengen-Abkommen hinsichtlich freien Personenverkehrs und Asylrechts an ihnen vorbei ziehen.

Nun spitzt die Weigerung Großbritanniens, den Ratifikationsprozess fortzusetzen, die Krise gefährlich zu, weil erstmals offenkundig wird, dass eine der Mehrheit der britischen Wähler genehme, d.h. schwächere EU, angestrebt wird. Sie würde beschränkt bleiben auf Wirtschaft (hauptsächlich Handel, vielleicht noch den Binnenmarkt), aber ohne Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und innergemeinschaftliche Solidarität. Wenn der britischen Regierung eine gründliche Diskussion über die künftige EU am Herzen läge, hätte sie den Europäischen Rat am 16./17.6.05 in Brüssel abwarten können. Nun sind vom Übergang der EU-Präsidentschaft auf London am 1.7. kaum konstruktive Initiativen zu erwarten.

Europaweite Diskussion als beachtlicher Erfolg Wäre die Europäische Verfassung ohne große Krise in Kraft getreten, wäre der internationale und völkerrechtliche Stellenwert der EU schlagartig gewachsen, der Euro würde sofort an Wert zulegen und die außenpolitische und militärische Interventionsmöglichkeiten der EU würden noch ernster genommen werden. Aber leider würde die EU im Innern mangels intensiver Auseinandersetzung bei den EU-Bürgern nach wie vor ein ungeliebtes Schattendasein führen. Nun erlebten die Menschen dank Medien, Parteien, Verbänden über Monate eine intensive öffentliche Diskussion mit Steigerungen durch die negativen Referenden in Frankreich und den Niederlanden und den zu erwartenden restlichen Abstimmungen und Auseinandersetzungen. Es gibt also eine europäische öffentliche Meinung, die sich schon bei BSE/Kreutzfeld-Jakob, Osterweiterung, Türkei usw. zeigte ... Die Wissenschaft sollte endlich aufhören, das Fehlen einer europäischen, öffentlichen Meinung zu beklagen und die Regierungen sollten beginnen, ihre Völker als europäischen Souverän zu behandeln und EU-weite Volksbefragungen zur Verfassung zum gleichen Zeitpunkt ansetzen.

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