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Pöhle, Klaus : EU-Verfassung - heftig umstritten und doch unverzichtbar ! ?

Kritische Referenden über den Verfassungsentwurf für die Europäische Union (EU) kommen näher und nun werden Sinn und Nutzen des Entwurfs vermehrt in Zweifel gezogen, um polemisch zugespitzt und oft an der Verfassung vorbei, ihr Scheitern zu erreichen. Auch werden nationalistische Stimmungen (Türkei und Islam ante portas, illegale Einwanderung usw.) das Ergebnis deutlicher beeinflussen, als der schwer lesbare Inhalt der Verfassung. Gegen verschiedene Vorwürfe (Neoliberalismus, Aufrüstung, Militarisierung, fehlende Umweltperspektive) u.a. im forum (März/April) möchte ich nach Überprüfung meiner europapolitischen Ge-wissheiten sehr kurz und ohne Fußnoten Stellung beziehen.

Warum ein so sperriger Verfassungsvertrag ?
Weil ihm keine Revolution vorausging und erst recht nicht der Übergang vom jetzigen Staatenverbund zum Bundesstaat Euro-päische Union ! Dies hätte im Sinne von André Hoffmann einen kurzen Verfassungstext erlaubt, der in nobler Sprache die gegenwärtige komplexe EU überwölbt und einige Leitlinien für ihre Weiterentwicklung gegeben hätte. Aber Kleinmut und Konservatismus scheuten vor mutigen Schritten zurück und wollten erstmal das Bestehende konservieren, weshalb der Teil III die gegenwärtigen Politiken mit ihren, eine Verfassung sprengenden Details enthält. Sodann wollten die Regierungen ihre Herrschaft betonieren und sich erst dann Neuem öffnen, was immerhin zu mehr Rechten für Europäisches Parlament (EP) und nationale Parlamente, aber auch zur Partizipation der Bürger führte. Immerhin ist der Verfassungsentwurf als Auflehnung des Konvents gegen die Regierungen zu werten, die ihm lediglich Reflexionen über die Zukunft der EU aufgetragen hatten. Dafür verfügt die EU-Verfassung über eine größere Bestandsfestigkeit als nationale Verfassungen, weil der Verfassungsentwurf in einen völkerrechtlichen Vertrag eingefügt werden musste. Nun setzen Änderungen wiederum einen einstimmigen Beschluss des Europäischen Rates und einer Regierungskonferenz sowie Ratifikation in allen Mitgliedstaaten voraus.

Bisher einmalige Legitimation.
Zwar wurden schon alle bisherigen europäischen Verträge von den Parlamenten der Mitgliedstaaten und in wenigen Fällen (Dänemark, Irland, Frankreich) zusätzlich von der wahlberechtigten Bevölkerung ratifiziert, aber sie entstanden durch weisungsgebundene Beamte in Regierungskonferenzen. Dagegen setzte sich der Verfassungskonvent zu Dreivierteln aus nationalen oder europäischen Parlamentariern und nur zu einem Viertel aus persönlichen Beauftragten der Regierungschef zusammen. Zusätzlich zur Ratifikation durch die Parlamente der Mitgliedstaaten war die Zustimmung des EP erforderlich und deutlich mehr verbindliche oder unverbindliche Referenden sind diesmal vorgesehen. Obwohl die meisten Bürger auch ihre nationale Verfassung nicht lesen, ist ihr Vorwurf berechtigt, die EU-Verfassung sei für den normalen Bürger nahezu unlesbar. Dafür konnten sie die lebhaften Verhandlungen des Konvents gut in den Medien verfolgen und nun bietet forum mit Heft und Internetportal wiederum Möglichkeiten zur Information. Ohnehin dürfte ein ‚Nein’ auf vor gefasster Meinung oder aktuellen Stimmungen als auf dem Entwurf beruhen.

Mögliche Konsequenzen eines Scheiterns der Verfassung :
Illusionen und Kleinmut können zum Scheitern der Verfassung führen. Die Zeit ist reif, um Europa (EU) als Völkerrechtssubjekts zur handlungsfähigen, respektierten Region in der globalisierten Welt zu erheben. In Gestalt der EU können Luxemburg und die anderen Mitgliedstaaten wirkungsvoller Einfluss auf das Weltgeschehen ausüben. Als das Europäische Parlament am 14.2.1984 einen vollständigen Verfassungsentwurf (Spinelli-Entwurf) vorlegte, war die Zeit noch nicht reif. Sollen unsere jungen Mitbürger noch einmal 20 Jahre warten ? Ein kurzes Zögern ist verständlich. Dann sollte mit einem ‚Ja’ der erfolgreiche Integrationsweg fortgesetzt werden.

Ein Scheitern der Ratifikation würde Enttäuschung und Verbitterung auslösen, insbesondere wenn Gründe den Ausschlag gäben, die mit der Verfassung selbst nichts zu tun haben. Diese Verbitterung bekämen Staaten zu spüren, die mit "Nein" gestimmt hätten. Wäre Motiv für das "Nein" die grundsätzliche Weigerung zur Vollendung der europäischen Integration, würde das Ausscheiden aus der EU erwartet werden, um die anderen Mitgliedstaaten nicht länger zu blockieren. Blieben sie, würden sie neben dem "Kerneuropa" einer zweiten Kategorie von Mitgliedstaaten angehören. Anders als bei früheren Vertragsreferenden sind keine Ausnah-men vorgesehen, um einem Staat, der ablehnt, die Wiederholung des nationalen Referendums zu ermöglichen.

Einen neuen Versuch würde es so schnell nicht geben, aber Teile der Verfassung könnten zumindest von den Kerneuropa-Staaten übernommen und praktiziert werden. Vielfach dürfte die Einstimmigkeit im Rat wieder zum Obligo werden und Demokratie- und Partizipationsrechte des Europäischen Parlaments und der Bürger (etwa Druck auf eine Gesetzesinitiative mit 1 Million Unterschriften) könnten für immer verloren gehen.

Vielen Menschen dürfte hier die Anwendung des Demokratieprinzips absurd erscheinen. Während für Beschlüsse des Rates die Zustimmung von 55% der Mitgliedstaaten und 65% der EU-Bevölkerung erforderlich sein sollen, also ein hohes demokratisches und demographisches Quorum verlangt wird, würden für ein Scheitern des Verfassungsentwurfs bei einem Nein Maltas oder Luxemburgs knapp 0,5% der Bevölkerung genügen. Zwar unterstreicht dies den staatenbündischen Charakter der EU, markiert jedoch auch seine strukturelle Schwäche. Zum Vergleich : Das deutsche Grundgesetz konnte in Kraft treten, obwohl sich der bayrische Landtag dagegen ausgesprochen hatte.

Austrittsmöglichkeit aus der EU
Das Recht zum Verlassen der EU (Art. 57 im Verfassungsentwurf) verrät keine Schwäche der EU gegenüber "zentrifugalen Tendenzen" (Romain Kirt), sondern ihre Stärke, denn es bestätigt lediglich den Wesensgehalt der Souveränität eines Staates, völkerrechtliche Verbindungen eingehen, aber auch wieder beenden zu können. Nun legt die EU hierfür Regeln fest und erleichtert damit zweifelnden politischen Kräften in Kandidatenstaaten die Zustimmung zum EU-Beitritt. Wer dagegen als Vollmitglied hartnäckig Integrationsfortschritte blockiert, kann unter Verweis auf die Austrittsmöglichkeit zu größerer Kooperationsbereitschaft gedrängt werden.

Anders als Romain Kirt sehe ich zentrifugale Kräfte mit tatsächlichem politischen Einfluss nur in Großbritannien, Dänemark und - bereits abgeschwächt - in Schweden. Aber sie haben bisher ihre Regierungen nicht zu einer Austrittspolitik bewegen können. Sorgfältiges Abwä-gen der Vor- und Nachteile der EU-Mitgliedschaft dürfte dies verhindert haben. Ohnehin würden austretende Staaten der wirtschaftlichen Vorteile wegen wie Island, Norwegen, Liechtenstein und die Schweiz über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) mit der EU wirtschaftlich verbunden bleiben, ohne allerdings weiterhin deren Politik am Ratstisch mit-bestimmen zu können. Da diese Zurückstufung ihres politischen Ranges ihr Ansehen weltweit schwächen würde, kann die EU ihre Entscheidung gelassen abwarten. Noch peinlicher wäre es, Jahre später erneut den Beitritt zu beantragen. Romain Kirts ‚Grönlandsyndrom’ ist in der Realität viel bescheidener : die etwa 58 000 Bewohner Grönlands wollten - wie gegenwärtig die 48 000 Bewohner der Faröer-Inseln (vgl. Art. IV-4 -6) - ihr staatsrechtliches Ver-hältnis zu Dänemark lockern und über ihren arktischen Fischfang möglichst selbst bestimmen können.

Vernachlässigung von Ökologie, Umweltschutz usw. ?
Diese Behauptung ver-kennt erreichte Erfolge und Chancen dieser Sektoren. Sie fanden schon 1979 im ersten direkt gewählten EP einen dynamischen Fürsprecher, der erfolgreich wurde, weil sich die geltenden Verträge über diese neuen Politikfelder praktisch ausschwiegen, die Regierungen und ihre Bürokratien wenig davon verstanden und die Kommission zunehmend kräftiger mitzog (siehe das aktuelle Feinstaub-Dilemma). Damals und auch heute genießen diese Gebiete unterschiedliche Priorität in den einzelnen Mitgliedstaaten. In den neuen Mitgliedstaaten ist schneller wirtschaftlicher und sozialer Aufstieg vorrangig ! Um so wichtiger ist die Aufgabe der EU, „ die nachhaltige Entwicklung Europas ... und ein hohes Maß an Umweltschutz und an Ver-besserung der Umweltqualität“ anzustreben (Art. I 3/3). Als den Mitgliedstaaten schon An-fang der achtziger Jahre erlaubt wurde, über die ökologischen Normen der EU hinaus gehende Standards national festzusetzen, wurde auch für das sensible Politikfeld Sozialpolitik ein Signal gesetzt. Paul Delaunois’ Beitrag nimmt offenbar zu stark Rücksicht auf sektiererisch/ fundamentalistische Mitglieder seiner Organisation.

Militarisierung und Aufrüstung.
Dieser Vorwurf lässt erstaunliche Unkenntnis über den Vertrag von Maastricht vermuten, der mit der Gründung der Europäischen Union den Übergang zu einer streng zwischenstaatlichen Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) schuf, welche in den seither verflossenen 12 Jahren - auch ohne Verfassung- bereits vielfach umgesetzt wurde. Die vor allem angegriffenen "Battle Groups" sollten bereits 2003 einsatzbereit sein. Javier Solana amtiert als Hoher Vertreter des Europäischen Rates bzw. der Regierungen und seit 2003 gibt es das "Politische und Sicherheitspolitische Komitee", den "Militärstab" und den "Militärausschuss" mit jeweils hochrangigen Diplomaten und Offizieren. Da Kritiker (mit Ausnahme fundamentalistischer Pazifisten) sicherlich nicht ihren lieben Nationalstaaten das Recht und die Pflicht zur Verteidigung nehmen wollen, können sie sich lediglich gegen deren Absicht wenden, ihre zumeist schwachen militärischen Kräfte im Rah-men der EU zu bündeln und schlagkräftiger zu machen, was Modernisierung ihrer Ausrüstung einschließt. Der Verfassungsentwurf trägt folglich dem Status quo der GASP Rechnung. Über Notwendigkeit der GASP und ihre parlamentarische Kontrolle beziehe ich mich auf meinen Beitrag im Februarheft (forum 243).

Asyl und Immigration
Ist die EU offen für die Aufnahme neuer Staaten (Art. I 57), nicht aber von Flüchtlingen und Asylanten im Widerspruch zu Art. II 18 ? ? Offenbar stört die Mehrheit der EU-Bürger nicht, dass Theorie und Wirklichkeit hier auseinander klaffen. Ihre Bereitschaft, Fremde aufzunehmen, scheint mit den umfangreichen Erweiterungen 1995 (Österreich, Finnland, Schweden) und 2004 (10 Staaten) erschöpft zu sein. Zwar brachte der Vertrag von Maastricht als 2. Säule der EU die Zusammenarbeit von Justiz und Poli-zei, aber diese Europäisierung des innenpolitischen Gewaltmonopols unserer Staaten verrin-gerte systematisch die Anerkennung von Asylanten auf 1 bis 4% und entsprechend ging die Zahl der Anträge zurück. Wir Bürger der EU sollen einen großen "europäischen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" erleben können. Aber muss dies bedeuten, dass Verfolgte es immer schwerer haben, europäischen Boden zu erreichen, um ihren Antrag stellen zu können. Wer dagegen Geld oder Investitionen mitbringt, bleibt willkommen.

EU-Grundrechtschutz
Es war beeindruckend, mit welcher Intensität und welchem Engagement der 1. Konvent 2000 die Charta der EU-Grundrechte aufstellte und dabei nationale Standards überschritt. So manche Regierung fühlte sich unter Druck gesetzt und nutzte den 2. (Verfassungs-)Konvent, um Korrekturen anzubringen und klarzustellen, dass die Charta die Organe der EU verpflichtet und sich auf die Umsetzung von deren Recht beschränkt. Aber Dramatisierungen à la Erpelding/Thomas (forum 245) verkennen die bisherige und künftige Rolle des Europäischen Gerichtshofes. Dieser entwickelte ab 1969 Schritt für Schritt aus Vertragsbestimmungen und allgemeinen Rechtsgrundsätzen auf der Basis der Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und internationaler Abkommen, vor allem der Europäischen Menschenrechtskonvention, die Grundrechtsordnung der EU. Nun kann sich der EuGH auf die Charta beziehen und erneut rechtsbildend wirken.

Der Vorwurf des Neoliberalismus
entwickelt sich leicht zum Totschlagargument, um einer seriösen wirtschafts- und sozialpolitischen Auseinandersetzung auszuweichen. Im Fall der EU sind zwei Herausforderungen zu unterscheiden :

Das allgemein akzeptierte Ziel "Gemeinsamer Markt" (seit Delors 1985 Binnenmarkt) erforderte vielfältige Harmonisierungen zur Herstellung möglichst gleicher Wettbewerbsverhältnisse. Mit gegenseitiger Öffnung der Märkte zugunsten des Wettbewerbs und der Verbraucher geriet so manche monopolartige nationale Wirtschaftsbastion trotz aller möglichen Tricks ins Wanken und das Volk bangte um das jeweilige nationale Symbol (etwa ARBED). Mit dieser Welle der Veränderungen schrumpften auch in Luxemburg die industriellen Arbeitsplätze und der Dienstleistungssektor (Banken, RTL, SES usw.) begann zu wachsen. Aber dieses Integra-tionsziel blieb als notwendig akzeptiert. Keiner der EU-Mitgliedstaaten will sich vom Welt-handel abwenden und eine Autarkie à la Nordkorea anstreben.

Die 2. Herausforderung bildet die Globalisierung. Sie überraschte die Staaten noch vor Ende und oft sogar vor Beginn ihrer überfälligen Reformprozesse. Bereits der Eintritt in die ge-meinsame Währung mit z.B. strenger Defizitdisziplin (3% !) und andererseits die Beibehaltung der Wirtschafts- und Sozialpolitik als nationale Angelegenheit führen immer wieder zu Widersprüchen. Mit Steuersenkungen, Frühverrentungen usw. halfen die Regierungen ihren Unternehmen, die Kosten zu senken und wettbewerbsfähiger zu werden. Diese verlagerten dennoch Arbeitsplätze ins Ausland. Zur Zeit überbieten sich die EU-Mitgliedstaaten mit weiteren Anreizen an die Wirtschaft, aber zur Harmonisierung der Unternehmenssteuern in der EU sind sie noch nicht bereit. Je größer und internationaler die Konzerne wurden, um so leichter können sie sich nationaler Kontrolle entziehen und Bußgelder in Millionenhöhe problemlos bezahlen. Immer nur halbherzig (aktuelles Beispiel : Lissabon-Programm) treten die Regierungen in der EU für Vollbeschäftigung und Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ein, weil die Sozialpolitik in nationaler Verantwortung bleiben soll, auch wenn deren Besitzstände in der Hitze des globalen Wettbewerbs beträchtlich zu schmelzen beginnen. Hauptleidtragende sind die nationalen Arbeitmärkte und die Gewerkschaften, wenn Arbeitsplätze verlagert, Ar-beitsbedingungen verschlechtert und Tarifvereinbarungen ausgehebelt werden. Guy Kemp (im Tageblatt 30.März 05) hat Recht : Die Liberalisierung der Dienstleistungen kommt als Teil der Binnenmarktzielsetzung auch ohne Verfassung aus. Sie wird nun differenzierter und langsamer eingeführt werden, obwohl sie Potenzial hat, viele neue Arbeitsplätze zu schaffen. Aber vorher dürften mehr Arbeitsplätze abgebaut werden und deshalb wollen die Regierungen zusätzliche soziale Verwerfungen vermeiden.

Weil unsere Nationalstaaten immer stärker an ihre Grenzen stoßen, liegen die Chancen für die Sicherung unserer Zukunft im europäischen Verbund. Die Verfassung ist ein wichtiger Schritt dorthin. Michel Erpelding und Adrian Thomas weisen in ihrer erkennbaren Fundamentalopposition gegen jegliche europäische Integration keinen einzigen Weg nach vorn. Sie sprechen vage (S.17 Aprilheft/Nr. 245 von forum) von „d’autres avenirs possibles pour l’Europe“ und bieten für ein ‚Nein’ zur Verfassung lediglich eine „traduction politique de la crise sociale et ,économique“ an. Aber mit bloßen Diskussionen dürften sich Arbeitnehmer und Arbeitslose zu Recht verhöhnt vorkommen.

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