Aktuell Informatioun an Dokumentatioun iwwert d’Verfassungsdébatt zu Lëtzebuerg
 
Newsletter

Abonnieren Sie unseren Newsletter:

Agenda

Hoffmann, André : Ist dies eine Verfassung ? Kritische Anmerkungen zum Charakter der EU-Verfassungsentwurfs

Die folgenden Überlegungen messen den Entwurf einer EU-Verfassung an bescheidenen Maßstäben. Es geht lediglich um die Frage, inwiefern der EU-Verfassungsentwurf den Kriterien einer Verfassung und den Ansprüchen demokratischer Legitimation entspricht.

Eine Verfassung ist ein Rahmen

Eine Verfassung institutionalisiert in rechtlicher Form den allgemeinen Rahmen, innerhalb dessen gesellschaftliche Interessen sich ausdrücken und soziale Konflikte sich austragen lassen. Nach dieser klassischen Auffassung darf eine Verfassung nicht eine bestimmte Politik inhaltlich vorschreiben, wie das der EU-Entwurf tut. Im Gegenteil, schreibt der Verfassungstheoretiker Dieter Grimm, die in einer Verfassung eingeschriebenen Grundrechte sollten „die verschiedenen gesellschaftlichen Funktionsbereiche : die Wirtschaft, die Wissenschaft (...) von einer durchgängigen Politisierung bewahren...“. Der Nutzen und die Kraft der Verfassung bestehe darin, dass „sie jenseits aller Gegensätze einen Grundkonsens über Zweck und Gestalt des Gemeinwesens formuliert und diesen dem tagespolitischen Kampf entzieht. Damit schafft sie Beständigkeiten im Wandel, erlaubt den zivilisierten Austrag der politischen und sozialen Konflikte und macht Mehrheitsherrschaft erst erträglich.“ [1]

Der Unterschied zwischen Verfassung und „tagespolitischen“ Entscheidungen drückt sich ja auch darin aus, dass in der Regel für eine Änderung der Verfassung andere Prozeduren mit höheren Hürden vorgesehen sind als für „normale“ Gesetze.

In krassem Gegensatz zu einem solchen Kriterium steht vor allem der dritte Teil der EU-Verfassung. Die in „tagespolitischen“ Auseinandersetzungen ausgehandelten Verträge der letzten Jahre werden hier noch einmal abgeschrieben, im gleichen Geist ergänzt und mitunter noch weiter präzisiert - gemäß einem momentanen sozialen Kräfteverhältnis bzw. gar dem politischen Gewicht verschiedener nationaler Regierungen. Dies gilt am auffälligsten, aber nicht nur, für eine Wirtschaftspolitik der allgemeinen Deregulierung und Privatisierung. Ein quasi parteipolitisches Programm wird so auf Verfassungsrang erhoben.

Die Frage der Legitimität

Nicht mehr in narrativen Mythen wie zur Zeit der Pharaonen, nicht mehr bei Gott oder dem gottgesandten Fürsten, und auch nicht beim inspirierten Geist eines Premiers liegt die Quelle der Legitimität in einer modernen Demokratie. Wie steht es mit der Legitimität dieser geplanten Verfassung ?

Könnte sie beruhen auf dem mehrheitlichen Beschluss eines Konvents - der nicht aufgrund expliziter unterschiedlicher Optionen gewählt werden konnte ? Auf einer Entscheidung des Rates (also der Regierungen !) - die nicht mehr zur öffentlichen Debatte stand ? Schließlich auf parlamentarischen Entscheidungen oder gar Volksbefragungen - bei denen die gewählten Parlamentarier und die Bürger nur noch Ja oder Nein zu einem unverdaulichen Text sagen können, dessen grundsätzliche Optionen niemals Gegenstand einer breiten, kontroversen öffentlichen Debatte waren ?

Demokratische Legitimität kann nicht allein beim Mehrheits-, ja nicht einmal beim Konsensprinzip liegen. Es kommt vielmehr darauf an, WIE eine Mehrheit (oder ein Konsensus) überhaupt zustande kommt, wie (trotz Mehrheiten) die Interessenkonflikte ausgetragen werden und werden können, wie Minderheiten ihre Interessen und Ansichten zur Sprache bringen können - also auch, wie offen und kontrovers der Diskussionsprozess verlaufen kann und tatsächlich verläuft.

„Das historisch erste Recht war das Recht auf Ketzerei“, schreibt der italienische Philosoph Flores d’Arcais : „Es geht nämlich darum, die Autonomie der freien und gleichen Wahl sicherzustellen. Das heißt, jeder Einfluss von außen, der die demokratischen Entscheidungen des Einzelnen beeinflusst, muss eingedämmt werden (...) Deshalb müssen wir in der Verfassung Normen verankern, die ein unparteiliches Informationssystem fördern, so weit Unparteilichkeit angesichts der menschlichen Bosheit überhaupt möglich ist. Darüber hinaus sollen wir alles tun, eine kritische und nachdenkliche Kultur auf ganzer Breite zu ermöglichen, und alles zurückdrängen, was unsere Intelligenz dem Konformismus ausliefert.“ [2]

Solchen Normen demokratischer Legitimation entsprechen weder die Art und Weise, wie der vorliegende Entwurf ausgearbeitet wurde, noch die Prozeduren seiner Ratifizierung. Die Drohungen und Erpressungen, die vor den Abstimmungen ausgestoßen werden, die bereits erschienenen und künftigen Glanzbroschüren mit ihrer einseitigen Propaganda sind das Gegenteil eines „unparteiischen Informationssystem“ und sollen tatsächlich „unsere Intelligenz dem Konformismus ausliefern.“ Und auch die Bestimmungen des Textes selbst werden diesen Normen nicht gerecht : sie regeln eben nicht die fairen Randbedingungen, die einen offenen Interessenkonflikt ermöglichen - sondern schreiben von vornherein die Vorherrschaft bestimmter Interessen und eine wirtschaftsliberale Dogmatik fest.

Verfassung und Wirklichkeit

Jede Verfassung spiegelt das gesellschaftliche Kräfteverhältnis wider, unter dem sie zustande kommt. Allerdings gingen den historischen Verfassungen in den USA und Europa in der Regel tiefe gesellschaftliche Bewegungen voraus, die einen „utopischen Überschuss“ in die Verfassungen hineinbrachten, der dann wiederum Erwartungen und Forderungen für den gesellschaftlichen Fortschritt mobilisieren konnte. Prägnantes Beispiel : Die konstitutionellen Grundprinzipien von 1789 : Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Eine Art „Prinzip Hoffnung“ gehört zum Wesen einer Verfassung. So formuliert es einer der bekanntesten deutschen Verfassungstheoretiker :

„Ihrer Funktion gemäß ist die Verfassung zu allererst ein Inbegriff von Rechtsnormen. In dieser Eigenschaft bildet sie nicht die soziale Wirklichkeit ab, sondern richtet Erwartungen an sie, deren Erfüllung nicht selbstverständlich ist und eben deswegen rechtlicher Stützung bedarf. Die Verfassung bezieht also Distanz zur Wirklichkeit und gewinnt daraus erst das Vermögen, als Verhaltens- und Beurteilungsmaßstab für Politik zu dienen.“ [3]

Es ist also keineswegs nebensächlich, wenn in einer europäischen Verfassung, und zwar ausgerechnet in der viel gelobten Charta der Grundrechte (Teil II) das Recht auf Arbeit, das noch in vielen nationalen Verfassungen (auch in der luxemburgischen) und zum Teil präziser noch in internationalen Pakten festgehalten ist, dem „Recht zu arbeiten“ gewichen ist (Art II-75) ; wenn im III. Teil nicht mehr die Vollbeschäftigung, sondern ein vages „hohes Beschäftigungsniveau“ als Ziel gilt (III-205) ; wenn nur mehr der Pflichtschulunterricht unentgeltlich sein soll (Art II-74-(2)) ; wenn nicht das Recht auf ein existenzsicherndes Einkommen, nicht das Recht auf eine Wohnung, sondern nur das „das Recht auf soziale Unterstützung und eine Unterstützung für die Wohnung“ festgehalten wird (Art II-94 (3)) - oder wenn das Streikrecht gleichermaßen den „Arbeitgebern“( !) wie den „Arbeitnehmern“ zugestanden wird. Diese Verfassung bildet eine unzulängliche Wirklichkeit nur noch ab, verliert die Distanz und schraubt die Erwartungen an die Politik bestenfalls zurück auf die Erhaltung des Status quo, im aktuellen Kontext aber eigentlich auf eine sozialpolitische Regression !

Soziale Grundrechte

Die klassischen Verfassungen des 18. und noch des 19. Jahrhunderts waren insofern liberal, als sie die Macht und die Willkür der staatlichen Macht einschränkten, indem sie vor allem die grundsätzlichen Freiheiten und die formale Gleichheit der Bürger festschrieben ebenso wie die zum Teil sehr eingeschränkten Formen der Beteiligung an politischen Entscheidungen.

Das Massenelend der Industriegesellschaft entlarvte den Gegensatz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Die formale Gleichheit und Freiheit konnte die reale Ungleichheit und die Unfreiheit der vielen nicht verdecken. Die Realisierung der „bürgerlichen“ Grundrechte beruht auf konkreten sozialen Voraussetzungen. Ohne Arbeit, Einkommen, soziale Absicherung, menschenwürdige Wohnung bleibt die Autonomie des Staatsbürgers eine leere Phrase. Die klassischen Grundrechte mussten also um „soziale Rechte“ ergänzt werden. Die sozialstaatlichen Grundsätze - die bis in die Verfassungen hinein einen wenn auch begrenzten Eingang fanden - waren nichts anderes als die logische Fortführung der klassischen Rechte und Freiheiten der bürgerlichen Aufklärung angesichts einer Realität, die deren Wahrnehmung für viele unmöglich machte !

„Aus der Dialektik von rechtlicher Gleichheit und faktischer Ungleichheit begründet sich die Aufgabe des Sozialstaats“, schreibt Jürgen Habermas. „Der aus den Grundrechten selbst begründete sozialstaatliche Interventionismus“ sei auch die Voraussetzung einer allgemein akzeptierten Legitimität - im Rahmen des Nationalstaats : „Insofern hat die sozialstaatliche Politik eine nicht unerhebliche Legitimationsfunktion übernommen.“ Sozialstaatliche Politik heiße natürlich vor allem „redistributive Sozialpolitik“, aber sie heiße wesentlich mehr : nämlich in allen wichtigen gesellschaftlichen Bereichen dem so genannten freien Markt Grenzen zu setzen - wegen seiner sozial destruktiven Tendenzen. „Viele Infrastrukturen des öffentlichen und privaten Lebens sind von Verfall, Zerstörung und Verwahrlosung bedroht, wenn sie der Regulierung durch den Markt überlassen werden.“ [4]

Die gesellschaftliche Regulierung des Marktes statt der Regulierung durch den Markt leitet sich also aus den grundsätzlichen (ursprünglich bürgerlichen !) Rechten und Freiheiten ab - wenn sie von allen genutzt werden sollen !

Selbstregulierung des Marktes

Der Abbau genau dieser Regulierung gehört zu den obersten Prinzipien des EU-Verfassungsentwurfs im 1. Teil, sie wird auch bis in die Einzelheiten durchdekliniert im politischen Programm des 3. Teils - und die Grundrechte der Charta (Teil II) werden durch diese Priorität stark eingeschränkt.

Zu den allerersten grundsätzlichen Zielen der Union zählt der „Binnenmarkt mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb“ (Art I-3-2. und dann immer wieder). Zwar zielt der nächste Paragraph auf „eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt“ (Art I-3-3.). Aber im dritten Teil heißt es ausdrücklich, die Anwendung dieses Artikels I-3 muss „dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet“ sein (III-177) ! Von „sozialer Marktwirtschaft“ an dieser entscheidenden Stelle keine Rede mehr. Geschweige denn von einer möglichen Regulierung des Marktes.

Es heißt, die Verfassungsprinzipien der nationalen Demokratien gerieten durch die wirtschaftsliberale Globalisierung (die allerdings nicht vom Himmel fiel) unter Druck. Vor allem die sozialstaatlichen Grundrechte seien nur mehr schwer auf nationaler Ebene zu halten oder gar auszubauen - wegen des globalisierten Wettbewerbs, der zum Krieg der Standorte führe. Wenn diese These stimmt, dann hätten wir für die EU, den riesigen Binnenmarkt, mit einem erheblichen wirtschaftlichen und politischen Gewicht auf der Weltbühne, eine Verfassung gebraucht, die die soziale Regulierung durch die Festigung und Ausweitung der sozialen und kulturellen Rechte in diesem großen Rahmen gewährleistet hätte. Ein überzeugendes und praktikables Gegenmodell zur globalen Deregulierung !

Zurück ins 19. Jahrhundert ?

Vor einigen Jahren hat Jürgen Habermas in seinem Essay „Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie“ die mögliche Zukunft Europas folgendermaßen formuliert : „Europa wird vor der Frage stehen, entweder den Problemdruck über den Markt - als Wettbewerb zwischen sozialpolitischen Regimen, die in nationaler Zuständigkeit bleiben - abzuwickeln oder dem Problemdruck politisch zu begegnen mit dem Versuch, in wichtigen Fragen der Sozial-, Arbeitsmarkt- und Steuerpolitik zu einer „Harmonisierung“ zu gelangen. (...) Ob sie [die europäischen Institutionen] auch die Kraft haben, im Sinne einer positiven Integration marktkorrigierende Entscheidungen zu treffen und Regelungen mit redistributiver Wirkung durchzusetzen.“ [5]

Mit dem Primat der Konkurrenz als oberstes Verfassungsprinzip der EU ist die Frage beantwortet - und wir drohen in die bürgerlichen Rechtsvorstellungen des 18. und 19. Jahrhunderts zurückzufallen. Was damals noch zum Teil als Ausdruck einer gewissen Naivität der bürgerlichen Aufklärung gelten konnte, ist heute, angesichts unserer Erfahrungen und unseres Wissensstandes, nicht mehr zu entschuldigen.

André Hoffmann
Mitglied von Déi Lénk, Schöffe im Gemeinderat Esch/Alzette

[1] Dieter Grimm, Verfassungspatriotismus nach der Wiedervereinigung, in : Brunkhorst/Niesen, Hrsg., Das Recht der Republik, Frankfurt am Main, 1999

[2] Paolo Flora d’Arcais, Ist Amerika noch eine Demokratie, in : Die Zeit, 20. 01. 2005

[3] Dieter Grimm, Die Zukunft der Verfassung, Frankfurt am Main, 1991, S. 14

[4] Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation, Frankfurt am Main, 1998, S. 101

[5] Ib., S. 146-147

Vous êtes ici : Sommaire > Die Debatte in Luxemburg > Analyse > Hoffmann, André : Ist dies eine Verfassung ? Kritische Anmerkungen zum Charakter der EU-Verfassungsentwurfs