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Stoldt, Jürgen : Was tun ? Luxemburgs nächste Aufgabe

Die EU-Verfassung ist tot. Selbst wenn der Europäische Rat am 16./17. Juni den Ratifizierungsprozess nicht offiziell stoppt (die Entscheidung fällt kurz nach Drucklegung dieser Ausgabe), hat der Vertrag nur noch seine Bedeutung für Historiker. Das europäische Projekt wird eine neue Richtung nehmen. Luxemburg kann seinen Beitrag dazu leisten, damit die von de Gaulle, Adenauer, De Gasperi und Bech verfolgte politische Einigung Kontinentaleuropas doch noch gelingt.

Kein Jurist, mit dem ich in den letzten Wochen über das Thema diskutierte, hat diesen Vertrag verteidigt. Kein Staatsrechtler und kein Historiker (die beiden einzigen Berufsgruppen, auf deren Sachverstand man in diesem Zusammenhang vertrauen sollte) wollten im privaten Gespräch für diesen Text eintreten.

Die Gegner hatten in der Debatte gute Karten : Sie brauchten nur mit dem Wortlaut des Vertrages zu argumentieren, der in jedem zweiten Abschnitt seine Schwächen offenbarte. Die Befürworter in Luxemburg scheuten indes aus einer Mischung aus Scham und Überheblichkeit, die Debatte auf der Ebene auszutragen, die einzig erfolgversprechend hätte sein können : das wirtschaftliche Interesse Luxemburgs. Die Politik wollte nicht deutlich aussprechen, was offensichtlich sein müsste : dass "dieses" Europa selbstverständlich mit dem Interesse des Wirtschaftsstandortes Luxemburg stark kompatibel ist. Nur der mittlerweile jenseits von Gut und Böse stehende Jacques F. Poos sprach es bei einem Rundtischgespräch in Esch unverblümt aus : Bolkestein ist ein Luxemburger !

Jetzt, angesichts des französischen und niederländischen Neins, stellt sich die Situation anders dar : Der Vertrag ist zwar schon mausetot, aber das Land könnte noch in eine höchst heikle Situation geraten. Würde das Referendum durchgeführt und ist das Ergebnis negativ (wie mittlerweile sogar schon im Regierungsviertel befürchtet wird), beißen Luxemburg, als den Letzten und Kleinsten, die Hunde. In den bald beginnenden Verhandlungen, in denen die strittigen Themen erneut verhandelt werden, könnte Luxemburg für das aktuelle Desaster mitverantwortlich gemacht werden. Im Zweifel werden nicht die Niederlande und kaum Frankreich die Zeche zahlen. Würde Luxemburg tatsächlich der EU-Verfassung noch vor den Dänen (27. September) den Gnadenstoß geben, wird es in Zukunft leicht sein, seine politischen Vertreter mit einem Verweis auf ihre "Verantwortung" mundtot zu machen.

Die am 10. Juli zum Nein tendierenden Bürger sollten eigentlich für die (sowieso schon hinfällige) Verfassung stimmen, um nicht unversehens und ohne Grund die in Jahrzehnten mühsam aufgebaute Verhandlungsposition ihres Landes zu zerstören.

Und wurde bislang durch das Referendum die Legitimierung der Europapolitik der letzten dreißig Jahre angestrebt, sieht es heute - nachdem das Objekt der Abstimmung gleichsam abhanden gekommen ist - so aus, als ob die Regierung sich ein Mandat für die anstehenden (harten) europäischen Verhandlungen erbitten sollte. Was hindert sie eigentlich daran, dies offen und ehrlich auszusprechen ? und gleichzeitig ihre europäische Vision zu formulieren !

Leider wurde jedoch sowohl im Außenministerium als auch im Staatsministerium bislang versäumt, die Ziele und Grundsätze zu formulieren, die die europäische Politik des Großherzogtums in ihrem Wesen leiten. Nach der Regierungszeit Pierre Werners verließ man sich auf Verwaltungsvorgänge (Außenministerium) oder auf den Instinkt (Staatsministerium). Beides stellt eine gute Basis für das Tagesgeschäft dar. Im heutigen Verhältnis zu den USA (vgl. den Beitrag von Lex Folscheid in diesem Heft), zu China oder zu so zweifelhaften "Freunden" wie Putins Russland kann sich dieser Ansatz als zu dünn erweisen.

Meiner Ansicht nach ist für Luxemburg der Moment gekommen, um Farbe zu bekennen : Die von den Gründervätern verfolgte Vision sollte wieder aufgegriffen und die Krise genutzt werden. Geben wir doch Großbritannien, was es seit der Gründungskonferenz der EWG in Messina im Juni 1956 immer verfolgte : Die EWG/EG/EU als einen gemeinsamen Rechts- und Wirtschaftsraum ohne politische Ambitionen und ohne geographische Beschränkung. Dann würde die Aufnahme der Türkei in einem ganz anderen Licht erscheinen, ihre Einbindung sich zu einer großartigen Leistung gestalten ! Auch der Ausbreitung des gemeinsamen Rechtsraumes - getrieben durch wirtschaftliche Verflechtung - über das gesamte Mittelmeer hinaus würden keine ideologischen Argumente mehr im Wege stehen.

Doch sollten wir gleichzeitig auf unseren eigenen Zielen bestehen : Die Zusammenarbeit der (zunächst west-)europäischen Völker in einer gemeinsamen Föderation, die sich nach Außen dem Erhalt und der Förderung von Frieden verpflichtet (und nicht der Rohstoffsicherung) und in diesem Sinne eine gemeinsame Außenpolitik betreibt. Und die nach innen dem wichtigsten Gut verschrieben ist, das Europa in den letzten 100 Jahren hervorgebracht hat : den sozialen Frieden. Im Kern des europäischen Projektes liegt ja nicht nur der arg strapazierte Satz "Nie wieder Krieg" sondern auch die Erhaltung des ganz eigenen europäischen Sozialmodells. Reichtumssteigerung um jeden Preis - dieses Credo des ungebremsten Kapitalismus, das auch die soziale Desintegration der Gesellschaft in Kauf nimmt - wird in Westeuropa von einer überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung nicht akzeptiert. Das hat der eigentliche europäische Konvent des Jahres 2003, der nicht unter Giscard d’Estaing in Brüssel thronte, sondern als Sozialforum in Paris diskutierte, allen ins Stammbuch geschrieben, die es damals hören wollten.

Jean-Claude Juncker hat vor wenigen Wochen auf dem Ministerratstreffen des Europarats (nicht der EU !) einen in diesem Zusammenhang sehr interessanten Auftrag erhalten ; er soll eine Architektur für das Europa von Morgen entwickeln. Seine Kollegen Staats- und Regierungschefs haben ihm ein Jahr Zeit gegeben, um einen Vorschlag auszuarbeiten, der eine Antwort auf die entstandene Konkurrenzsituation zwischen EU und Europarat geben soll. Er sollte diese Gelegenheit jedoch nebenbei nutzen und einen großen Wurf vorlegen, der in seinem Kern die politische Einigung des europäischen Kontinents verfolgt.

Ein solcher Entwurf beinhaltet :
-  auf der obersten Ebene den Europarat, als Garant der Menschenrechte
-  auf der mittleren Ebene die EU als Rechts- und Wirtschaftsraum
-  auf der unteren Ebene die Nationalstaaten, die ihre klassischen Souveränitätsrechte nicht abgeben wollen, neben
-  einer zu gründenden Föderation jener Nationalstaaten, die den Schritt zu einer politischen Union wagen wollen und die eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, ein weitgehend harmonisiertes Steuerrecht und ein vergleichbares Sozialsystem anstreben.

Nachdem die EU-Erweiterung erfolgreich gemeistert wurde, kann sich die luxemburgische Europapolitik in den kommenden Jahren der ’Vertiefung’ verschreiben. Die heutige Krise, d.h. die grundsätzliche Infragestellung der Finalität der EU durch ihre Bürger, muss nicht als Aufforderung verstanden werden, jenes Projekt aufzugeben, das zuerst Chruchill 1949 in seiner berühmten Rede in Zürich vorgebracht hat, das de Gaulle und Adenauer verfolgten und das in den letzten zehn Jahren insbesondere von konservativen Politikern im europäischen Bewußtsein gehalten wurde.

Das Konzept ’Kerneuropa’ ist als Antwort auf den Vertrag von Maastricht von den CDU-Politikern Karl Lamers und Wolfgang Schäuble 1994 vorgelegt worden. Die « géometrie variable », die mit dem Vertrag von Maastricht eingeführt wurde und die ein Voranschreiten in verschiedenen Geschwindigkeiten erlaubte, wird hier beim Wort genommen. Eine politische Initiative, angeführt von Frankreich und Deutschland sollte die politischen Ambitionen Europas retten. Das Konzept wurde später von Stoiber, von de Villepin, aber auch von Schroeder im Anschluss an den Zwist mit den USA über den Irak-Krieg aufgegriffen. In den letzten Jahren waren es jedoch insbesondere die beiden EU-Kommissare Pascal Lamy und Günther Verheugen, die bei vielen öffentlichen Veranstaltungen für eine (deutsch-französische) Union eintraten (siehe u.a. « Pour une Union franco-allemande », Libération, 21. Januar 2003). Für Lamy beschränken sich die Aufgaben eines "Bundes" auf « ce que l’Europe et les Länder allemands ne font pas, c’est-à-dire deux domaines essentiels : la politique étrangère et la défense, pour lesquelles il faudrait disposer (...) d’un budget fédéral, ainsi que la politique économique et sociale et une partie de la recherche (Le Monde, 13. November 2003). Le Monde schreibt in der gleichen Ausgabe : « Dominique de Villepin (der damalige französische Außenminister) a explicitement évoqué cette hypothèse d’une Union franco-allemande. Jugeant essentiel d’aller de l’avant, il a estimé que ce processus de rapprochement est le seul pari historique que nous ne pouvons pas perdre. »

Für Jürgen Habermas (in der Süddeutschen Zeitung vom 6. Juni 2005) ist für Europas Zukunft "das wahrscheinlichste Szenario ein Abdriften unseres ökonomisch geeinten, aber als politische Größe zerfallenden Kontinents in den gesellschaftlichen Sog der Hegemonialmacht." Dagegen setzt aber auch er eine "politische Perspektive", die die "Menschen wieder von Europa träumen lässt". Habermas sieht als Ausweg aus der Krise die "verstärkte Zusammenarbeit" einiger europäischer Staaten auf Grundlage des Artikels 43 und 44 des Vertrages von Nizza.

Habermas schreibt weiter : "Entscheidungsreife Situationen brauchen freilich Personen, die eine noch so geringe Chance auch ergreifen. Jean-Claude Juncker hätte das Format und den Willen. Aber ihm fehlt die Macht." Ob der Pragmatiker Juncker das Format zum Staatsmann hat, muss er (bei allem Respekt) noch beweisen, und ob er den Willen hat, das heißt ein übergeordnetes politisches Ziel verfolgt, ist selbst jenen, die ihn seit Jahrzehnten beobachten können, ein Geheimnis. Aber in einem Punkt irrt sich Habermas ganz sicherlich : Junckers und das heißt Luxemburgs Machtlosigkeit ist kein Manko, sondern die größte Chance. Weder Frankreich noch Deutschland könnten dieses Unternehmen (dem sich sicherlich Spanien, ein Italien unter Prodi, Österreich und Belgien anschließen würden) anschieben. Für die politische Einigung Europas auf dem Scherbenhaufen der EU-Verfassung könnte Luxemburg der ideale Geburtshelfer sein !

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