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Ginter, Christian : Europäische Verfassung - Ein rotes Tuch für den Stier

Auf wundervolle Weise hat sich in den letzten fünf Jahrzehnten eine tief greifende Revolution in Europa vollzogen. Bestandteil dieser Entwicklung ist die Erweiterung sowie die Konstitutionalisierung der Europäischen Union. „Die Europäer“ so schreibt Robert Kagan, „sind aus der Hobbesschen Welt der Anarchie in die Kantische Welt des ewigen Friedens herausgetreten.“ Das bemerkenswerte daran ist, dass diese Revolution nicht über Nacht stattfand. Was über Jahrhunderte zusammengewachsen ist, dessen lange Entwicklungen von Generation zu Generation vorangetrieben wurden, die Ströme von Blut gekostet haben, die aber auch zu Selbstbestimmung, Unabhängigkeit und Vorsorge geführt haben ; dies wird durch den Vertrag für eine Verfassung für Europa festgeschrieben.

Entgegen der Tatsache, dass Europa eine Erfolgstory ist, bedeutet dies keineswegs, dass die Union vor Krisen und Zweifel gefeit ist. Die Europäische Einigung stand bisher weitgehend unter dem Motto „trial and error“, wobei sie eher der Echternacher Springprozession - zwei Schritte nach vorn und wieder einer zurück - glich, als einer durchdachten und planmäßigen Aktion. Zweifel werden auch in diesen Tagen wieder gehegt, nur ist noch nicht gewusst, in welche Richtung uns der Stier trägt : In den europapolitischen Abgrund oder zu neuen Ufern ?

Die bisherige Praxis der Trippelschritte, nämlich der fortlaufenden Ergänzung der bestehenden Verträge und ihrer gleichzeitigen Fortschreibung, ist in Nizza endgültig an ihre Grenze gestoßen. Insofern stellt der Verfassungsvertrag zwar keinen Sprung in der Geschichte der europäischen Einigung dar, er bedeutet aber immerhin ein beachtlicher Schritt nach vorn, mehr als Amsterdam und Nizza zusammen. Allerdings muss betont werden, dass auch dieser Verfassungsvertrag nur ein weiteres Brückenglied und eine Zwischenetappe ist.

Daher ist der Vertrag über eine Verfassung für Europa nicht die Vollendung und der Schlussstein der europäischen Einigung, sondern nur ein weiteres wichtiges Etappenziel hin zu einer wahrhaftigen Verfassung für Europa. Anhand seiner Geschichte, der unzähligen Fortschritte, aber auch der Rückschläge sowie der zahlreichen Vertragsrevisionen wird deutlich, dass der europäische Integrationsprozess nicht linear verläuft. Europa ist komplex ; per aspera ad astra !

Wenig sinnvoll ist der Vergleich des Europäischen Verfassungstextes mit der Kürze und Einfachheit der amerikanischen Verfassung. Vor schnellgriffigen Analogien zu den national gewachsenen Verfassungen soll gewarnt werden, da sie nur Trugbilder erzeugen. Es ist zwar legitim darauf hinzuweisen, dass der Verfassungsvertrag nicht perfekt und in der Tat hätte verständlicher sein können.

Aber ist die Verfassung Luxemburgs eigentlich perfekt ? Auch ich würde mir eine luxemburgische Verfassung wünschen, in der Staat und Kirche strikt voneinander getrennt sind, die menschliche Reproduktion untersagt, Cannabis nicht mehr unter Strafe stellt, Euthanasie in bestimmten Fällen ermöglicht und die doppelte Staatsbürgerschaft eingeführt wird. Aber, weder Luxemburg noch Europa ist ein Wunschbazar in dem jeder seinen Wunschzettel auspackt und gleich streikt, wenn einer seiner Wünsche nicht in Erfüllung geht !

Zudem monieren die Kritiker des Verfassungsvertrages gerne, dass es sich gar nicht um eine Verfassung handelt. Und sie haben Recht : der Vertrag über eine Verfassung für Europa, ist nämlich keine „richtige“ Verfassung. Wie der Name bereits vorwegnimmt, handelt es sich um einen Vertrag, der den Bedingungen eines internationalen Vertrages unterliegt. In anderen Worten, Verträge werden von Staaten für Staaten ausgehandelt und ratifiziert.

Verfassungen hingegen werden gemeinhin für Staaten und seine Bürger geschrieben. Nun ist die EU jedoch kein Staat, weshalb es nicht die „Europäische Verfassung“ geben kann. Eine gemeinsame Bindungskraft wird nicht durch den formalen Akt einer Verfassung getätigt und kann nur von einem „europäischen Volk“ geleistet werden. Jedoch gibt es keinen europäischen „demos“, sondern 25 verschiedene europäische Völker, die auf unterschiedlichen Traditionen, Sprachen, Religionen und Erfahrungen aufbauen. Somit ist es unsinnig, die Europäische Union mit einem Staat oder den Verfassungsvertrag mit unseren nationalen Verfassung zu vergleichen. Ebenso ist es abwegig, innerhalb der EU von Gewaltentrennung zu sprechen, wie es sie in Nationalstaaten gibt. Die EU ist weder Staat noch Nation. Aber dies muss erst einmal verstanden werden !

Im Grunde spiegelt der Verfassungsvertrag die Konzeption der EU wieder. Nämlich, wie es in Artikel I-1 heißt „geleitet von dem Willen der Bürgerinnen und Bürger und der Staaten Europas, ihre Zukunft gemeinsam zu gestalten (...)“. Demnach baut die EU sowohl auf den Staaten als auch auf seinen Bürgern auf, wodurch sie Züge eines neuen politischen Systems erhält, eines Systems „sui generis“. Sie ist mehr als eine internationale Organisation, jedoch weniger als ein Staat. Ähnlich verhält es sich mit dem Verfassungsvertrag, welcher zwar die Form eines Vertrages aber die Seele einer Verfassung hat.

Machen wir uns nichts vor, solange die bindende Kraft zwischen den europäischen Völkern fehlt, kann es nicht das europäische Volk geben. Daher kann eine europäische Verfassung - ob nun Vertrag oder Verfassung - nicht als ein in sich geschlossenes und selbsttragendes Ordnungssystem lebensfähig sein, sondern sie wird immer „nur“ eine Komplementärverfassung sein.

Trotzdem legt der Vertrag über eine Verfassung für Europa den Grundstein für die Zukunft des Kontinents und seiner Völker. Was eint uns ?

Uns eint, links genauso wie rechts des politischen Spektrums, der Wille zur Freiheit und zum Frieden. Ferner eint die Europäer, die Ausdauer im Kampf um soziale Gerechtigkeit, die Ablehnung der Todesstrafe oder die Verteidigung der Grundrechte. Diese Gemeinsamkeiten sind es, die im Verfassungsvertrag festgehalten werden. Der Vertrag legt das Fundament für ein freies, fortschrittliches und friedliches Europa.

Werte, die explizit im Verfassungsvertrag festgehalten werden, sind die Achtung der Menschenwürde, die Demokratie, die Gleichheit und die Rechtsstaatlichkeit. Als Ziele hält die Union unter anderem ein hohes Maß an Umweltschutz, die soziale Marktwirtschaft, sowie die Vollbeschäftigung und den sozialen Fortschritt fest. In vielen Bereichen ist der Geist der Solidarität und der sozialen Gerechtigkeit im Text verankert. Die Rechte der Arbeiter, der Kinder, von Frauen und Männer ziehen sich wie ein roter Faden durch den Verfassungsvertrag. Daher sollten wir die Kommission und alle anderen, die in Europa Verantwortung tragen, immer wieder daran erinnern, dass Europa nur dann eine Zukunft hat, wenn es sich auf einem sozialen Fundament bewegt.

Weiter bringt die Verfassung mit der Verankerung der Charta der Menschenrechte eine Definition der Rechte und Werte der Europäer. Diese Rechte und die hiermit verbundenen Pflichten sind in Zukunft verbindlicher Maßstab für alle europäischen Institutionen und ihnen gegenüber einklagbar.

Mit dem Verfassungsvertrag wird auch keineswegs der Neoliberalismus oder die Militärisierung festgeschrieben. Es ist schon eine skurrile Situation : Während zum Beispiel gestandene Politiker wie Fabius oder Emanuelli kritisieren, dass die europäische Verfassung eine neoliberale Wirtschaftsordnung festschreibt und das soziale Europa beerdigt wird, beschwert sich die Opposition in Großbritannien über zu viel europäische Sozialpolitik.

Stehen im Mittelpunkt, der römischen Verträge noch der Agrarmarkt, die Zollunion, die Wirtschafts- und Währungsunion, so rückt die Verfassung den europäischen Bürger in der Vordergrund : Transparenz, direkte Demokratie, Umwelt und Verbraucherschutz sind fortan Bestandteil des Verfassungsvertrages.

Die demokratische Mitwirkung der Bürger und der nationalen Parlamente wird durch den Verfassungstext verbessert. Das oftmals zu Recht angeprangerte Demokratiedefizit der Europäischen Union wird durch ein stärkeres Mitwirken der nationalen Parlamente aber auch seiner Bürger abgemildert. Ferner steigt das, alle fünf Jahre zu wählende, Europäische Parlament zu einem wahrhaftigen Parlament auf, das gleichberechtigt mit dem Ministerrat über Gesetze und Haushalt entscheidet.

Die Verfassung stellt die Übersichtlichkeit des Entscheidungsprozesses und seiner vielfältigen Institutionen her. Das Wozu und Warum werden neu verdeutlicht, eine Neu- und Zuordnung der vielfältigen institutionellen Entscheidungsabläufe werden wesentlich vereinfacht. Das Subsidiaritäts- sowie das Verhältnismäßigkeitsprinzip stehen für das Erfordernis, die Kompetenzverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten so transparent, wie möglich zu gestalten. Der Verfassungstext berücksichtigt beides. Er differenziert klar zwischen den Aufgaben die Brüssel und die Mitgliedstaaten ausüben und denen, die geteilt werden. Ausschließliche Zuständigkeiten, gemischte Zuständigkeiten und ergänzende Zuständigkeiten - so heißen die neuen Kompetenzbereiche.

Es ist gelungen, die Europäische Union handlungsfähiger zu gestalten. Blockaden werden überwunden. In der Außen- und Sicherheitspolitik bekommt Europa Gesicht und Stimme. Es besteht die Chance, dass die EU fortan in der Lage sein wird, zentrale Herausforderungen dieser Welt zu lösen, und dass dabei nicht mehr über Gegensätze geredet wird, sondern Gemeinsamkeiten formuliert werden. Gleichzeitig ist es als Fortschritt zu werten, dass endlich der Posten eines europäischen Außenministers geschaffen wurde. Es ist positiv, dass die drei Säulen Europas zusammengefügt wurden. Es ist fortschrittlich, dass wir in Europa mehr Mehrheitsentscheidungen treffen können. Es ist gut, dass in den Krisenherden der Welt nicht mehr drei Personen auftreten, nämlich derjenige, der gerade für ein halbes Jahr den Vorsitz innehat, derjenige, der ihn im letzten halben Jahr innehatte, und derjenige, der ihn im nächsten halben Jahr innehaben wird.

Man kann nur erstaunt sein über die Argumente der Verfassungsgegner, die eine Militarisierung Europas befürchten. Angesichts der Tatsache, dass eine politische Union angestrebt wird, steht es außer Frage, dass diese sich auch die Mittel zu ihrer Verteidigung gibt. Zusätzlich sollen die europäischen Staaten in Zukunft weniger Geld für ihre Verteidigung ausgeben, die Mittel sollen zusammengelegt werden, damit das Geld effizienter eingesetzt werden kann. Mit der europäischen Verteidigungsagentur sollen militärische Überkapazitäten abgebaut und - gesamteuropäisch betrachtet - Verteidigungsausgaben eingespart werden.

All dies soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Verfassungsvertrag verbesserungsfähig ist. Der Vertrag stellt einen Kompromiss von 25 legitimiert gewählten Regierungen dar und es ist zu erwarten, dass der Verfassungstext über die Jahre hinweg - wie übrigens die anderen Verträge auch - noch in einigen Punkten verbessert werden wird. Deshalb kann die Verfassung nur eine weitere Etappe hin zur mehr Integration sein, die zu einer Vertiefung der europäischen Beziehungen und zu „einer immer engeren Union der Völker Europas“ führt.

Erst zu einem späteren Zeitpunkt wird es darum gehen, wesentliche Lücken zu schließen, die bereits angesprochen worden sind. Dass dies nicht über Nacht vollzogen werden kann, ist offensichtlich. Robert Schuman war sich dessen bewusst als er am 9. Mai 1950 verkündete : „L’Europe ne se fera pas d’un coup, ni dans une construction d’ensemble.“

Für diese Verfassung musste ein Kompromiss gefunden werden, der niemals jedem gerecht werden kann. Trotzdem ist er nicht der schlechteste. Er wurde folgendermaßen formuliert : „Die Union wirkt auf die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität hin. Sie fördert den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt. Sie bekämpft soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen und fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes.“ (Artikel I-3)

Bei allen Differenzen und Kontroversen, zu welchen der Verfassungstext Anlass gibt, muss man ihm eines zu Gute halten. Nämlich, dass endlich europaweit eine breite Diskussion über den europäischen Einigungsprozess geführt wird. Dabei stehen Ziel, Zweck und Gestalt der Union im Mittelpunkt. Mögen Juristen, Verfassungsrechtler oder Politologen darüber streiten, ob der Verfassungstext ein großer Wurf ist. Fest steht jedenfalls, dass er Auslöser einer europaweit geführten Debatte ist und die Entstehung einer europäischen Agora, in dem das Für und Wider ausgetauscht werden, gefördert hat.

Es ist richtig, dass der Text lang, oft schwerfällig und manchmal kaum verständlich ist. Es irrt sich, wer meint, dass ein anderes Europa, eine bessere Verfassung möglich ist. Jeder der die Verfassung ablehnt und ein Neuaushandeln der Verfassung anstrebt, unterschätzt den Zeitbedarf für die Verständigung über höchst kontroverse Themen. Im Endeffekt werden bei einer Ablehnung des Vertrages, wieder 25 Staaten - wahrscheinlich sogar mehr - über einen neuen Verfassungsvorschlag entscheiden müssen.

In der Zwischenzeit wird Europa viel Zeit verloren haben. Zudem werden weder Fabius, noch Emmanuelli am Verhandlungstisch sitzen. Nein, Verhandlungsführer werden Leute wie Blair, Chirac und Berlusconi sein. Wer die Zeichen der Zeit aufmerksam verfolgt, der muss erkennen : Allzu viele verpasste Chancen zur institutionellen Reform Europas können wir uns nicht mehr leisten.

Wir haben noch einen langen Weg vor uns ; schließlich ist und bleibt es ein Vertrag. Seien wir uns also im Klaren darüber, dass es noch keine Verfassung gibt, die - ähnlich den ersten Worten der amerikanischen Verfassung „We the people“ -mit „Wir, das Volk Europas“ beginnt. So weit sind wir noch nicht ; es gibt noch kein Staatsvolk.

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