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Kirt, Romain : Das Krisenpotential des EU-Verfassungsvertrages

 [1]Das Wort „Krise“ ist ohne Zweifel eine der am häufigsten mit der EU und dem europäischen Einigungsprozess konnotierten Vokabeln. Es vergeht kaum ein Tag, in dem nicht irgendein Journalist irgendwo in der EU eine Krise ausmacht. Bereits die kleinste Meinungsverschiedenheit zwischen zwei EU-Mitgliedstaaten wird in der Regel gleich zur Krise hochstilisiert. Die Europäische Union ist, so hat es jedenfalls manchmal den Anschein, eine einzige „Krisen-Gemeinschaft“, aber, sie ist - ähnlich wie eine langjährige Ehe - eine „erfolgreiche Krisengemeinschaft“, um mit Wichard Woyke zu sprechen.

„Krise ist ein produktiver Zustand“, meint Max Frisch, man müsse ihr nur den „Beigeschmack des Katastrophalen“ nehmen. Im chinesischen Alphabet hat das Schriftzeichen für den ursprünglich aus dem Bereich der Medizin stammenden Begriff „Krise“ (dort ist mit „Krisis“ der Klimax einer Krankheit gemeint, jener Punkt also, an dem sich entscheidet, ob sich der Zustand des Patienten verbessert oder verschlechtert) zwei grundverschiedene Bedeutungen : zum einen bedeutet dieses Zeichen „Chaos“, zum anderen „Hoffnung“. In diesem Sinne kann man sagen : Wenn die Debatte über den EU-Verfassungsvertrag heute noch für ein ziemlich großes Chaos in der Europäischen Union sorgt, so besteht doch die berechtigte Hoffnung, dass die EU auch aus dieser Krise gestärkt hervorgehen wird. Denn : Die europäische Integration hat in der Zwischenzeit ein Niveau erreicht, das es ihr ermöglicht, Krisen nicht nur leichter als früher zu überwinden, sondern auf destabilisierende interne Konflikte mit einem Integrationsschub oder gar einem integrationspolitischen Quantensprung zu reagieren. Zwei Beispiele : Der Disput um die Regierungsbeteiligung der FPÖ in Österreich führte in der EU zu dem Beschluss, dass die Mitgliedschaftsrechte eines Mitgliedstaates suspendiert werden können, wenn es in diesem Staat zu Menschenrechtsverletzungen kommt. Und die EU-internen Meinungsverschiedenheiten bezüglich des Irak-Krieges entpuppten sich als willkommener Anlass, um nach US-amerikanischem Vorbild (gemeint ist die National Security Strategy) eine europäische Sicherheitsstrategie auszuarbeiten.

Die bemerkenswerten Fortschritte, welche die Europäische Union in den letzten Jahren in Sachen Management und Bewältigung interner Krisen gemacht hat und auch die vorhin erwähnte Ausarbeitung einer europäischen Sicherheitsstrategie dürfen jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass die Europäische Union im Moment vor einer ihren größten Herausforderungen steht, denn : Wenn der EU-Verfassungsvertrag nicht ratifiziert werden sollte, dann könnte die Krise, in welche die EU dann unweigerlich hinein gerät, durchaus dazu führen, dass die EU zerbricht, dass sie zu der von den Briten präkonisierten Freihandelszone de luxe wird - die sich ihre - auch im EU-Verfassungsvertrag fest gehaltenen politischen Ambitionen - ein für allemal abschminken kann.

Das Ringen um die Ratifizierung des nunmehr vorliegenden EU-Verfassungsvertrages könnte sich durchaus als „ein gefährliches Abenteuer“ (so Larry Siedentop) erweisen, denn sowohl der Text selbst, als auch die ihn nunmehr flankierenden Debatte enthalten hinreichend Krisenpotential, um das ganze Projekt ernsthaft zu gefährden.

Ich sehe insgesamt fünf Gefahren, zwei exogene und zwei endogene (oder text-immanente) Gefahren sowie eine Gefahr, die unmittelbar aus der zweiten endogenen Gefahr resultiert.

Die beiden exogenen Gefahren sind
-  die Verbindung der Ratifizierungsdebatte mit der Diskussion über den möglichen EU-Beitritt der Türkei
-  und damit eng verbunden die Frage, wie es in und mit der EU weitergehen wird, wenn der EU-Verfassungsvertrag nicht ratifiziert werden wird.
-  Die zwei endogenen Gefahren sind :
-  die im Verfassungsvertrag stehende „Ausstiegsklausel“
-  seine - ich sage es mal provokativ - ordo-liberale Ausrichtung,
-  sowie die - und damit wären wir dann bei der fünften Gefahr - die aus eben dieser Ausrichtung (oder auch nur als solche empfundenen Ausrichtung) resultierende mangelnde Akzeptanz für den Verfassungsvertrag.

Dazu nun einige Anmerkungen.

Zum Aspekt „EU-Mitgliedschaft der Türkei und EU-Verfassung“

Obwohl es prima vista keinen direkten und unmittelbaren Zusammenhang gibt zwischen der Ratifizierung des EU-Verfassungsvertrages und der geplanten Aufnahme der Türkei (die übrigens als Beobachter in die Arbeiten des Konvents eingebunden war und auch die Zusatzprotokolle zum Verfassungsvertrag unterzeichnet hat) in die EU, so wäre es für einen integrationspolitisch versierten Populisten doch ein Leichtes, einen solchen Zusammenhang zu konstruieren und damit nachhaltigen Schaden anzurichten.

Zwei Argumente würden dazu reichen, zwei Argumente, die zur Zeit von den Kritikern und Gegnern des EU-Verfassungsvertrages immer wieder ins Feld geführt werden, und zwar : der EU-Verfassungsvertrag ist ein primär ökonomisch ausgerichtetes Dokument und er öffnet der Re-Militarisierung Europas Tür und Tor.

Mit der Aufnahme der Türkei in EU, so ließe sich dann argumentieren, würde aus der EU noch ein größeres „Markt-Europa“, ihre institutionelle und damit letztendlich auch politische Handlungsfähigkeit würde noch weiter eingeschränkt und : die NATO-Phalanx innerhalb der EU würde enorm gestärkt, da die Türkei nicht nur NATO-Mitglied ist, sondern vor allem auch ein Staat mit einer ausgeprägten militärischen (um nicht zu sagen : militaristischen) Tradition ist.

Als Schlussfolgerung würde dann der Hinweis reichen : wenn der EU-Verfassungsvertrag nicht ratifiziert wird, dann verschiebt sich ganz sicher auch der Aufnahmetermin für die Türkei - damit hätte man dann zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen : erstens würde man dem ökonomischen Imperialismus der EU Einhalt gebieten, und zweitens bekäme auch die angeblich geplante Re-Militarisierung der EU einen kräftigen Dämpfer.

Zum Aspekt „Nicht-Ratifizierung des EU-Verfassungsvertrages“

Was passiert, wenn der EU-Verfassungsvertrag nicht ratifiziert werden sollte ?

Gewusst ist : wenn 20 der 25 EU-Mitgliedstaaten den Text ratifizieren, dann tritt der Europäische Rat zusammen und entscheidet, wie es weitergehen soll.

Wichtig scheint mir in diesem Zusammenhang der Hinweis, dass es sehr stark darauf ankommt, welche 20 Staaten den Text ratifizieren bzw. welche Staaten ihn gegebenenfalls nicht ratifizieren. Es macht doch einen großen Unterschied, ob die „Abtrünnigen“ gestandene EU-Mitglieder (also Gründerstaaten) sind oder Neuankömmlinge ; auch macht es einen Unterschied, wenn es 5 kleine Staaten sind, die mit Nein abstimmen werden, oder eben 5 große.

Ich sehe nicht nur die Gefahr einer Zwei-Klassen-EU (Ja-Sager und Nein-Sager), sondern auch die Möglichkeit einer Eskalation der Debatte über die Bedeutung von großen und kleinen Ländern in der EU. Auch sehe ich die Gefahr, dass man - wie das bereits beim Maastricht-Vertrag in Dänemark und jüngst beim Nizza-Vertrag in Irland durchexerziert wurde - nach-ratifizieren lässt, d.h. dort, wo das Wahlergebnis nicht den Erwartungen entspricht, einfach noch einmal abstimmt. Sollte es tatsächlich zu einer solchen Situation kommen, dann wird sich die Kluft zwischen den Bürgern und der EU noch einmal um ein gutes Stück vergrößern. Mehr noch : ein solches Procedere könnte die desintegrativen Tendenzen in der EU noch verstärken.

Zum Aspekt „Ausstiegsklausel“

Die im EU-Verfassungsvertrag fest geschriebene Option, aus der EU austreten zu können, könnte einige Staaten dazu animieren, diesen Passus zum politischen „High-Jacking“ zu nutzen. Beispielsweise wenn ein von einem Mitgliedstaat vorgebrachtes spezifisches nationales Interesse (auf das man sich mit Stützung auf den Luxemburger Kompromiss berufen kann) nicht beachtet oder berücksichtigt wird, könnte dieser Staat mit seinem Austritt aus der EU drohen - und schon würde das Krisen-Gerede wieder Hochkonjunktur haben.

Diese Klausel könnte zu dem führen, was ich hier einmal das „Grönland-Syndrom“ benennen möchte, mit Blick auf den seinerzeitigen Austritt Grönlands aus der EG. Diese Klausel hat in jedem Fall das Zeug dazu, die zentrifugalen Tendenzen innerhalb der EU noch zu verstärken...aber vielleicht würde diese Klausel ja auch nur deshalb in den Text aufgenommen, um dem Vereinigten Königreich den Königsweg zum Austritt aufzuzeigen. Wir sollten uns nicht düpieren lassen : Machiavelli lebt, auch und gerade in Brüssel !

Zum Aspekt „Hyper-Ökonomisierung“

Das ehedem philosophisch-utopische europäische Einigungsvorhaben ist im Laufe der Jahre immer mehr zu einem primär ökonomisch ausgerichteten Projekt geworden. Aus der anvisierten Gemeinschaft von Menschen („Nous ne coalisons pas des Etats, nous unissons des hommes“, hatte Jean Monnet in den Anfangsjahren des Integrationsprozesses wiederholt verlauten lassen) ist, um mit Johan Galtung zu sprechen, eine „Gemeinschaft der Konzerne“ geworden. Nach der mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) eingeleiteten Europäisierung der kerneuropäischen Kohle- und Stahlproduktion, mit der eine erneute kriegerische Auseinandersetzung zwischen den verfeindeten Brüdern Deutschland und Frankreich unmöglich gemacht werden sollte, verlagerte sich der Schwerpunkt der europäischen Integration immer stärker auf das Ökonomische - nicht zuletzt auch deswegen, weil die Zeit für politische Integrationsvorhaben (Verfassungsentwurf von 1953, Fouchet-Plan, Europäische Verteidigungsgemeinschaft) knapp zehn Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges einfach noch nicht reif war. Die 1985 mit der Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) ins Auge gefasste Kommunitarisierung der Nationalökonomien der EG-Mitgliedstaaten, mit der die wirklich heiße Phase Europäisierung der Wirtschaft und zugleich die Ökonomisierung des Integrationsprozesses eingeleitet wurde, hat zu einer ganzen Reihe von integrationspolitischen Quantensprüngen geführt (Errichtung des EG-Binnenmarktes, Einführung des EURO).

Den diese integrationspolitischen Quantensprünge nur halbherzig mit tragenden EU-Bürgern, die in Sachen Europapolitik scheinbar ganz andere Prioritäten haben, wird - rein virtuell natürlich ! - das Clinton-Bonmot „It‘s the economy, stupid !“ entgegen gehalten, und die wirtschaftliche Integration wird fidel weiter vorangetrieben. Wenn es um die Errichtung, die Stabilisierung, den Ausbau und die Erweiterung des Gemeinsamen Marktes ging, waren sich die Staats- und Regierungschefs der EU immer relativ schnell einig. Die „Left overs“ nach Europäischen Räten oder Regierungskonferenzen waren nur in den seltensten Fällen Fragen ökonomischer Natur, sondern primär und nahezu ausschließlich politischer oder institutioneller Natur. Der nunmehr seiner Ratifizierung durch die 25 EU-Mitgliedstaaten harrende EU-Verfassungsvertrag scheint diese These zu bestätigen, denn : Er ist hauptsächlich eine ordo-liberale Wirtschaftsverfassung ohne soziale Dimension ; keine betont europäische Antwort oder Reaktion auf die Globalisierung, sondern ein die Schattenseiten der Globalisierung noch schürender Text. Des Weiteren zeigt auch ein Blick auf die Prioritäten des Luxemburger EU-Ratsvorsitzes (erstes Halbjahr 2005), dass auf EU-Ebene das Ökonomische vor dem Politischen kommt. Während die USA versuchen, den Irak zu befrieden und sich anschicken, ebenfalls im Iran einzumarschieren, revidieren die Europäer ihren Stabilitätspakt, diskutieren über ihre Finanzen und erarbeiten eine Halbzeitbilanz für ihre so genannte Lissabon-Strategie, die sie zur wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsmacht der Welt machen soll.

Doch nahezu alle bisher von den Integrationspolitikern unternommenen Versuche und eingeleiteten Schritte, um den seit Jahren schon so vor sich hin dümpelnden europäischen Integrationsprozess wieder anzukurbeln und mit Leben zu erfüllen, haben weder die geplanten, anvisierten und sicher auch einkalkulierten Ergebnisse gezeitigt (vor allem nicht auf dem EU-Arbeitsmarkt, aber auch nicht hinsichtlich der Wiederankurbelung der Konjunktur), noch haben sie die erhoffte Resonanz bei den Bürgern gehabt. Weder die Strategie von Luxemburg, noch die Einführung des EURO, noch die ominöse Lissabon-Strategie haben die sich seit Jahren schon ausweitende Kluft zwischen den Bürgern und der EU verringern können, im Gegenteil. Das den europäischen Integrationsprozess seit der Verabschiedung bzw. Ratifizierung der Einheitlichen Europäischen Akte (1985 bzw. 1986) immer stärker prägende Ökonomische hat die Menschen immer mehr Abstand nehmen lassen von einem europäischen Einigungsprojekt, mit dem sie sich kaum noch, in jedem Falle aber immer weniger identifizieren können.

Romain Kirt

[1] Dieser Beitrag ist eine von der Redaktion gekürzte Fassung des Vortrages, den Romain Kirt am 18. Februar 2005 im Rahmen eines von der Université du Luxembourg organisierten Kolloquiums zum Thema „EU-Verfassung“ gehalten hat.

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